Erinnern heißt kämpfen!

»Wollt ihr denen Gutes tun, die der Tod getroffen,
Menschen, laßt die Toten ruhn und erfüllt ihr Hoffen!«
Erich Mühsam – Ehrung der Toten

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Erinnern heißt kämpfen?
Was soll das eigentlich heißen?

Anlässlich unserer Veranstaltungsreihe zur Weltgeschichte des Anarchismus haben wir uns einige Gedanken zu anarchistischer Geschichsschreibung gemacht.

Die vielfältige Geschichte der anarchistischen Bewegung ist weitestgehend zugeschüttet und aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt worden.
Weder die Anfänge in der ersten Internationalen und revolutionären Bewegungen, noch die kurzlebigen Revolutionen in Spanien, Korea, der Ukraine, Russland oder Mexiko in denen Millionen von Menschen versuchten ein Leben nach anarchistischen Grundsätzen aufzubauen und die zeitweise stärksten Gewerkschaftsbewegungen der Welt (Stichwörter: Haymarket Massacre, IWW, CNT) sind den meisten Menschen heute noch bekannt.

Aber dieses Wissen um die Vergangenheit ist für alle, die heute neuen Widerstand aufbauen wollen, ein wichtiges Werkzeug. Einerseits, weil es klar macht, was alles möglich ist: Was schon einmal geschehen ist, kann wieder geschehen – im Guten wie im Schlechten. Andererseits, weil es davor schützt vergangene Fehler zu wiederholen. Wir leben heute eben nicht in einer befreiten Gesellschaft mit gleichberechtigter Verteilung des gemeinschaftlichen Wohlstands an alle – die vergangenen Bewegungen dafür hatten keinen Erfolg. Wenn wir das ändern wollen, liegt es auch in unserer Verantwortung uns mit dem Schicksal derjenigen, die uns vorrausgegangen sind, auseinanderzusetzen. Wie machen wir das am besten?

Bild: Anarchistische Milizionär*innen in Barcelona, 1936

Weder Held*innen noch Märtyrer*innen…

Geschichtsschreibung wird hierzulande meistens nicht als Sozial- oder Weltgeschichte betrieben. Viel öfter ist sie eine, auf Europa oder Deutschland fokussierte, Erzählung über sogenannte »große« Männer. Das Brecht-Gedicht »Fragen eines lesenden Arbeiters« von 1935 bringt das ganz gut auf den Punkt. Die wenigen Personen an die namentlich erinnert wird sind Anführer*innen, Herrscher*innen und Vordenker*innen – das gilt leider auch für viele Kreise, die vorgaben die Vorherrschaft von Eliten überwinden zu wollen. Auffällig ist dieses Versagen etwa bei den kommunistische Richtungen. Sie benennen sich schon fast immer nach ihren jeweiligen, zentralen Personenkulten: Marx-ismus, Lenin-ismus, Trotzk-ismus, Mao-ismus und so weiter. Der Kult um den „starken Anführer“ spiegelt sich dann leider auch in der politischen Form, die die realsozialistischen Staaten angenommen haben – brutale, bürgerliche Dikaturen, die es nicht einmal schafften die 1. und 2. Klasse in ihren Zügen abzuschaffen, geschweige denn die Klassengesellschaft.

Bild: Durch die anarchistische Gewerkschaft CNT kollektivierte Straßenbahn in Barcelona.

Auch im Anarchismus, also der politischen Richtung, deren erklärtes Ziel es ist alle Formen von  Herrschaft zu überwinden, gibt es merkwürdigerweise eine verbreitete Geschichtsschreibung, die dazu neigt sich auf wenige, zentrale, meist männliche »Autoritäten« zu konzentrieren. Oft genannt werden etwa Proudhon, Bakunin, Kropotkin, Tolstoy, Godwin oder Stirner – und wenn ein bisschen feministische Sensibilität dabei ist als einzige Frau noch Goldman. Das führt zu einem verzerrten Blick, der sehr viele Menschen, die weniger im Rampenlicht standen, aber trotzdem Wichtiges zu dieser Bewegung beigetragen haben, in Vergessenheit geraten lässt. Die Neigung einzelne Menschen so zu überhöhen, dass ihre Leistungen unerreichbar scheinen, ist schädlich. Denn dabei geht unter, dass sie alle auf den Schultern der Organisationen, Infrastrukturen, Familien und Freundeskreisen standen in denen sie sich bewegten – und Menschen waren wie du und ich, mit allem was dazu gehört.
Das Konzentrieren auf »Held*innen« schafft ein unerreichbares Ideal. Die Toten können sich gegen diese Vereinnahmung nicht mehr wehren, wir uns schon. Sonst steigt auch die Gefahr, dass wir uns gegenwärtig klein machen lassen von den Projektionen auf die »große« Vergangenheit. Dass wir das Nötige nicht tun, weil wir uns ihm nicht gewachsen fühlen. Wenn die Ziele, für die sie gekämpft haben eingelöst werden sollen, sollten wir die Taten unserer Vorkämpfer*innen als das begreifen was sie sind: machbar, wiederholbar, angesichts ihrer bisherigen Erfolgslosigkeit und der sich selbst verstärkenden, globalen Systemkrise auf so vielen Ebenen notwendigerweise zu übertreffen.

Genau das bedeutet »Erinnern heißt kämpfen!«
Wir wollen, dass die politischen Ideen und Taten der Verstorbenen in unserer Bewegung aufgenommen werden, Macht entfalten und Früchte tragen; und vor allem, dass ihre Träume eines Tages endlich verwirklicht werden.

Bild: Anarchistische Milizionär*innen verteidigten die spanische Revolution gegen den Faschismus.

»rest in power«.
Bloß eine reine Organisationgeschichte zu erzählen, die die Taten der Einzelnen verschweigt und nur das Kollektiv hervorhebt, wäre auch unvollständig und eben …unpersönlich. Sie wäre auch noch unzugänglicher, noch schwieriger zu begreifen. Einzelne Personen nicht zu stark hervorheben zu wollen darf nicht heißen, dass Einzelpersonen unwichtig wären. Im Gegenteil: Möglichst niemand darf vergessen werden. Deshalb soll nicht nur an ein paar wenige, sondern an möglichst viele Menschen erinnert werden die sich im Kleinen wie im Großen gegen die Herrschaft des Menschen über den Menschen und für eine gleichberechtigte Gesellschaft gestritten haben.

Hier sind einige Seiten, die das versuchen:

Wenn ihr weitere kennt, schreibt uns bitte eine Mail.

Bild: »Wir wollen nicht nur ein Stück vom Kuchen, sondern die ganze Bäckerei!« Eine Kollektivbäckerei in Arbeiter*innenselbstverwaltung.

Eine herrschaftskritische Sicht auf die Geschichte…

…hört nicht bei der Ablehnung von Personenkulten auf. Wichtig ist auch:

Wem wird zugehört, wer kann überhaupt gehört werden?
Welche Stimmen überliefert werden und welche nicht, hat mit der Machtverteilung in der Gesellschaft zu tun. Deshalb ist es wichtig zu versuchen, antikoloniale, indigene, queere oder feministische Positionen einzubeziehen. Die Gegenwart beeinflusst auch die Geschichtswissenschaft. Diese Beeinflussung muss immer mitreflektiert und wo nötig kritisiert werden.

Es gab immer schon Macht ohne Herrschaft:
Gesellschaften sind mehr als ihre Eliten! Die gängige Geschichtsschreibung hängt sich an den »großen« Imperien oder Herrscher*innen auf. Sie betont die Macht, die von oben nach unten ausgeübt wird. Aber es gibt auch eine andere Form der Macht, nämlich die die auf gleichberechtigter Solidarität, Respekt und Autonomie entsteht. Diese Macht kann sich gerade auch im Zerfall von großen Reichen und im Sturz der Herrschenden zeigen. So etwas wird meistens als kultureller Niedergang, Katastrophe und Krise gedeutet. Aber es ist oft auch das Ergebnis von Rebellionen, dem Aufkommen alternativer Lebensweisen und der (erneuten) Durchsetzung von lokaler Autonomie.

Es gibt genauso vielfältige Stimmen und Arten von Wissen:
Geschichte wird gerade auch im Alltagsleben, in sozialen Zusammenhängen und Gemeinschaften geschrieben – nicht nur in großen Konflikten und Paradigmenwechseln. Menschen hatten zu allen Zeiten vielfältige Identitäten und Lebenssphären – teils auch widersprüchliche und widerständige. Es gibt viele verschiedene Formen von Expert*innenwissen, auch jenseits der Unis und Akademien – und nicht alle die sich antiautoritär organisieren oder entsprechend handeln beschreiben sich als »anarchistisch«. Oft werden etwa nur frühe Staatskritiker*innen als Vorläufer*innen des Anarchismus eingeordnet. Anarchismus heißt aber nicht nur Ablehnung des Staates, sondern auch die Ablehnung aller anderen gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse, etwa von Kapitalismus, Patriarchat und Rassismus.

»Fortschritt« ist ein Mythos:
Geschichte ist weder eine bloße Abfolge von Klassenkämpfen noch eine lineare Entwicklung zu sozialeren oder gerechteren Gesellschaften. Eine relativ lineare Entwicklung gibt es vielleicht bezüglich Technologien – nicht im Umgang der Menschen. Auch wenn die derzeitige Gesellschaft sich gerne als der »Weisheit letzter Schluss« präsentiert – sie ist es nicht! Viele ihrer positiven Elemente wurden schon von lange zurückliegenden Gesellschaften verwirklicht. Von den kolonialen Völkermorden, den Hexenverfolgungen bis zum Holocaust und der Klimakrise – die größten geschichtlichen Verbrechen und Katastrophen sind recht moderne Entwicklungen. Wer sagt: »Wie kann es sein, dass das heute noch möglich ist« sagt damit eben letzlich nur, dass er oder sie ein nicht haltbares Bild von geschichtlichem Fortschritt hat.
Trotzdem gab es auch nie ein »goldenes Zeitalter«. Die befreite Gesellschaft liegt in der Zukunft, in der Vergangenheit kann sie nicht gefunden werden.

Bild: Eine Versammlung der mujeres libres, der anarchafeministischen Organisation im revolutionären Spanien.

the future is still unwritten…

Gerade weil es keinen »automatischen« Fortschritt gibt, müssen wir sowohl die durch vergangene Bewegungen erreichten sozialen Verbesserungen verteidigen als auch ihre uneingelösten, revolutionären Ziele weiter einfordern. Was wir brauchen ist ein Geschichtsbewusstsein, in dem vielfältige Menschen verankert sind, die uns Halt geben ohne erdrückende Überfiguren zu werden. Die Ratgeber und Zuhörer in dunklen Zeiten sein können – Träger*innen einer Hoffnung, deren Schein in uns allen, die an besseren Verhältnissen interessiert sind widerscheint. Einer Erinnerung, die uns verpflichtet weiter aufzustehen, bis sie endlich erreicht ist, die »Welt des Friedens und der Freiheit« die der Schwur von Buchenwald (pdf) fordert.

Bild: »a las barricadas«

Es gibt kein Ende der Geschichte – sie ist nach wie vor in alle Richtungen offen.
Ein emanzipatorisches Bewusstsein von Geschichte stell unsere eigenmächtige Handlungsfähigkeit wieder her. Wir dürfen die Vergangenheit  weder romantisieren noch bloß wiederholen wollen – aber wenn wir sie verstehen und aus ihr lernen, dann ist sie ein solides Fundament, auf dem wir eine neue Gegenmacht bauen können.

Geschichte ist machbar.
Durch uns.
Heute.

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»Die russischen Kommunisten sind gescheitert, weil sie nicht den Mut hatten, mit der Vergangenheit zu brechen. Sie haben den Staat mit den Räten verquicken wollen. Der Staat ist geblieben, stärker als je zuvor, die Räte sind Werkzeuge des Staates geworden, also keine Räte mehr. Wer aber fragt: Wird es nicht wieder so kommen? Sind es nicht Menschen, mit denen ihr ausziehen wollt, die Freiheit zu errichten, schwache, autoritäre, geknechtete, knechtende, gehorsame und törichte Menschen? Wie wollt ihr fertig werden mit den Widerständen der geistigen Trägheit und der anerzogenen Ehrfurcht vor Kirche, Schule, Familie und Staat? – wer so fragt, dem wollen wir entgegensetzen unsern Willen, unsern Mut und unsre Überzeugung. Denn die Gegenwart soll an die Zukunft keine Fragen stellen, sondern Forderungen!«
Erich Mühsam – Alle Macht den Räten

Wenn es etwas Lächerliches daran gibt, von der Revolution zu sprechen, dann natürlich deshalb, weil die organisierte revolutionäre Bewegung aus den modernen Ländern, in denen die Möglichkeiten zu einer entscheidenden Gesellschaftsveränderung konzentriert sind, seit langem verschwunden ist. Noch viel lächerlicher aber ist alles andere, denn es handelt sich um das Bestehende und um die verschiedenen Formen seiner Duldung. Das Wort „revolutionär“ konnte so weit entschärft werden, daß es in der Werbung die kleinste Veränderung der ständig modifizierten Warenproduktion bezeichnet, weil die Möglichkeiten einer wünschenswerten zentralen Veränderung nirgends mehr ausgedrückt werden. In unseren Tagen erscheint das revolutionäre Projekt als Angeklagter der Geschichte: Ihm wird vorgeworfen, daß es schlechten Erfolg gehabt und eine neue Entfremdung mit sich gebracht habe. Das heißt nichts anderes, als daß die herrschende Gesellschaft sich auf allen Gebieten der Wirklichkeit viel besser wehren konnte, als die Revolutionäre es vorausgesehen hatten; und nicht, daß sie annehmbarer geworden ist. Die Revolution ist aufs neue zu erfinden – das ist alles.
Situationistische Internationale – Anleitung für den Kampf

Bild: Demo, Barcelona, 193

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