Redebeitrag auf der Kundgebung: Seebrücke – Seenotrettung ist kein Verbrechen! | Trier, 6.7.2019

Hallo zusammen, wir sprechen für das anarchistische Kollektiv Trier – Stella Nigra,

Aus aktuellem Anlass geht es bei uns heute um Recht und Gesetz … wir stehen heute nur deshalb gemeinsam hier, weil mutige Aktivist*innen bereit waren sich im Notfall auch über Regeln hinwegzusetzen. Anstatt weiter zuzusehen, wie Menschen sterben, haben sie gehandelt.
Das ist in diesem Fall glücklicherweise verhältnismäßig gut ausgegangen. Offensichtlich hat die faschistische Lega, die in Italien regiert, sich noch nicht ganz damit durchgesetzt, Seenotrettung zu kriminalisieren. Auch wenn die Sea Watch 3 weiter beschlagnahmt bleibt, wurde Carola Rackete vorerst freigelassen – wir wünschen ihr von Herzen, dass sie auch in Freiheit bleibt!

Als die Crew der Sea Watch 3 ihre Aktion startete war das so nicht abzusehen. Sie haben klar gesagt, dass mögliche juristische Konsequenzen für sie nicht zählen. Sie wollten Verantwortung übernehmen, egal ob der Staat sie dafür bestraft oder nicht. Sie haben gesagt: „Ya Basta, es reicht“ und die Befehle der italienischen Autoritäten an sie verweigert.
Wir wissen nicht, ob es in dieser mutigen, ungehorsamen Crew Anarchist*innen gibt. Es würde uns nicht wundern. Ihre Aktion ist für uns ein beispielhafter anarchistischer Akt.

Wir Anarchist*innen weigern uns, die Gewalt staatlicher Autoritäten, über uns zu akzeptieren. Deshalb dürfen wir uns immer wieder anhören, wie schrecklich das doch wäre, wenn Menschen Regeln übertreten, weil sie nach ihrem Gewissen entscheiden und nicht danach was legal ist. Denn das würde doch nur auf Chaos, auf die „Herrschaft der Stärkeren“ oder „…eines Mobs“ hinauslaufen.

Dabei ist gerade die Aussage „die Moral stehe nicht über dem Gesetz“ widersinnig. Gesetze sollen doch im Endeffekt nichts anderes sein, als verregelte Moral, der durch die Gewalt des Staates Geltung verschafft wird. Ist es aber nicht wichtiger zu hinterfragen, wessen Moral und was für Gesetze da eigentlich durchgesetzt werden?

Auch der Holocaust, die Sklaverei, Apartheid und koloniale Massenmorde geschahen auf legaler Grundlage – und entsprachen den verdrehten Moralvorstellungen der Arschlöcher, die die jeweiligen Staaten kontrollierten. Die Gefährdung unserer globalen Lebensgrundlage durch den Klimawandel, Massenaussterben und die Rodung der letzten Urwälder, Atombomben und anderen radioaktiven Müll anhäufen, Millionen Menschen verhungern zu lassen, Abschiebung in Krieg und Folter, Isolationslager, Armut und Elend – alle diese Dinge sind nach den Vorstellungen und Gesetzen derjenigen, die uns heute beherrschen, immer noch legal.

Lassen wir uns nichts vormachen: Auch die modernen Staaten sind, bei allem schönen Schein, einfach nur ein Ausdruck einer Herrschaft der Stärksten. Es ist eben nur ein Mittel desjenigen Mobs, der sich bereits erfolgreich gegen die anderen durchgesetzt hat – der sich das alleinige Recht auf den Einsatz bewaffneter Gewalt und die Gestaltung des öffentlichen Lebens reserviert hat. Die wichtigste Funktion des Staates ist eben nicht, die ihm unterworfenen Menschen gut zu versorgen und ihre Rechte zu schützen – sondern Macht- und Eigentumsverhältnisse abzusichern. Dieser Mob, der uns mit Hilfe des Staates beherrscht, das ist die Klasse derjenigen, die im großen Stil Land und Wohnungen, Fabriken und Firmen, Maschinen und Kraftwerke besitzen. Ihre Moral ist die Unantastbarkeit ihres Privateigentums. Solange es wirtschaftliche Ungleichheit gibt, solange ist alle Demokratie, alle Gewaltenteilung und Gleichberechtigung per Gesetz nur schöner Schein. Anatole France hat das in folgendem Satz schön auf den Punkt gebracht: „Das Gesetz – in seiner majestätischen Gleichheit – verbietet den Reichen wie den Armen, unter Brücken zu schlafen, auf den Straßen zu betteln und Brot zu stehlen.“

Im Fall der im Mittelmeer ertrinkender Geflüchteter zeigen die europäischen Staaten ihr wahres Gesicht – und auch einmal mehr, dass ihnen die Gesetze bei Bedarf völlig egal sind. Zur Seenotrettung wären sie nämlich nach internationalem Seerecht verpflichtet. Trotzdem hat die EU ihre Seenotrettungsprogramme abgeschafft – und tut alles, um Retter*innen, die diese Lücke füllen, Steine in den Weg zu legen.
Was die Verachtung der Menschenrechte angeht, steht die deutsche Politik ihren italienischen Kolleg*innen in nichts nach. Als das Verfassungsgericht 2015 entschied, dass Asylsuchenden eine sogenannte menschenwürdige Grundsicherung zustünde – ja, zynischerweise wird Hartz 4 so bezeichnet – hatte CDU-Inneminister de Maziere nichts besseres zu tun, als sofort öffentlich zu überlegen wie der Entscheid trotzdem zu unterlaufen sei, etwa mit Sachleistungen. Und auch für den neuen Innen- bzw. Abschiebeminister Horst Seehofer, sind Menschenrechte offensichtlich nur als Klopapier zu gebrauchen. Nicht, dass hier in Kaltland nach gut einem Dutzend Asylrechtsverschärfungen seit ’93, vom Menschenrecht auf Asyl noch wirklich etwas übrig wäre.

Wieso ist das so? Die europäischen Gesellschaften, ehemalige Kolonialreiche, sind immer noch von Rassismus durchsetzt. Er wird leider auch dadurch sichtbar, dass wenn eine einzelne, Weiße Deutsche in Italien verhaftet wird, weil ihr all das eben nicht egal war, die Hälfte der deutschen Politiker*innen plötzlich aufschreit – aber viele davon so himmelschreiend still sind, wenn jährlich abertausende Schwarze Menschen an den Grenzen sterben. Jede und jeder einzelne Tote müsste zu einem ohrenbetäubendem Aufschrei führen!

Es scheint irgendwie mehr und mehr eine Aufgabe linker und linksradikaler Bewegungen geworden zu sein, die politisch Verantwortlichen auf ihre eigenen Spielregeln hinzuweisen.
Während der sogenannte „Verfassungsschutz“ fleißig NSU-Akten schreddert oder für ein Jahrhundert sperrt, wurde die Grundversorgung und rechtliche Verteidigung abertausender Refugees wurde 2015 nicht von staatlichen Stellen sondern linken Basisinitiativen gewährleistet, die oft mehr Menschlichkeit an den Tag legten als das Gesetz erlaubte. Heute überlegt die Politik, Menschen ihr Recht zu nehmen überhaupt gegen Abschiebebescheide zu klagen und will Geflüchtete schon bei reinem Verdacht einer Straftat abschieben – so werden Refugees von ihr zu Menschen zweiter Klasse gemacht.
Die Regierung scheint sich auch erst dann an ihre eigenen Klimaziele erinnern zu wollen, wenn Aktivist*innen auf der Straße sie mit Nachdruck darauf hinweisen.

Solidarität sollte eine Selbstverständlichkeit sein. Aber wir müssen auch verdammt nochmal Wege finden, damit dieses rassistische, sexistische und kapitalistische Dreckssystem – mit all seinen Kriegen und Kontrollen, seiner Vernichtung von Umwelt und Menschenleben, seinen Mauern und Grenzen endlich den verdienten Weg auf die Müllhalde der Geschichte findet. Statt den miesen Status Quo nur gegen die noch mieseren Rechten zu verteidigen, sollten wir gemeinsam auf seine Überwindung hinarbeiten.

Welche unerträglichen Widersprüche es mit sich bringen kann sich in Rückzugsgefechten zu verzetteln, lässt sich auch an den linksliberalen Parteien beobachten. Die Grünen beispielsweise werden derzeit gerne als große Hoffnung gegen die Rechten gehandelt. Dafür machen sie aber leider den Terror gegen Geflüchtete, den die große Koalition veranstaltet, noch viel zu oft mit. Wir unterstellen vielen von ihnen durchaus gute Absichten, und zumindest bei einigen Freund*innen hier vor Ort in Trier wissen wir, dass da auch ordentlich Widerstandsgeist mit im Spiel ist. Aber etwa in Schleswig-Holstein haben die Grünen in der Regierung ein Abschiebehaftsgesetz mitgetragen, mit dem jetzt auch Kinder eingesperrt werden können. Sie bauen einen neuen Abschiebeknast, und reden sich das damit schön, dass sie die Leute die sie von da deportieren lassen wollen ja sonst in die normalen JVAs stecken müssten.

Auch die rotgrüne Regierung hier in Rheinland-Pfalz ist, was die Abschiebequote angeht, nach über 1400 Abschiebungen letztes Jahr bundesweit auf dem zweiten Platz. Da hilft es auch nicht mehr, nach dem Skandal um eine schwangere Iranerin, die nur deswegen nicht aus einem Mainzer Krankenhaus abgeschoben wurde, weil sie sich gegen die Polizist*innen gewehrt hat, endlich Kliniken zu safe spaces zu erklären und sonstige, kleine Verbesserungen zu erreichen.

Liebe Fau Dreyer, liebe Frau Spiegel – hier in Rheinland-Pfalz lassen sie nach wie vor schutzlose Familien und Einzelne im Stich. Menschen, die bereits das Grauen der Flucht hinter sich haben, lassen sie in isolierten Lagern, schäbigen Unterkünften oder in der Ingelheimer Abschiebehaft vegetieren. Sie lassen sie von ihren bewaffneten Büttel ohne Vorwarnung und mitten in der Nacht aus ihren Wohnungen schleifen. Auch Abschiebungen in Länder wie Afghanistan, in denen ihr Leben nicht mehr sicher ist, gibt es hier mittlerweile monatlich. Sie brauchen den Betroffenen nichts davon zu erzählen, dass wir ja so einen humanen Umgang mit Geflüchteten hätten. Oder wahlweise was vom fiesen Sachzwang des Bundesrechts und das es ja auch noch viel schlimmer kommen könnte… Sie werden trotzdem kein Verständnis dafür haben, dass irgendwelche Gesetze über ihrem Recht auf Leben stehen sollen. Wir haben das auch nicht, denn ausnahmslos jede Abschiebung ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Es bleibt dabei: Kein mensch ist illegal! no border – no nation – stop deportation!

Also liebe Landesregierung: Wir gehen davon aus, ihr fühlt euch damit selber ziemlich mies und wollt sowas auch garnicht mehr länger zu verantworten haben. Na: Dann tut es halt auch nicht.

Nehmt doch die anarchistische Option – einfach nicht mehr mitmachen, Widerstand leisten. Wie wäre es damit, den Gehorsam wie das Regieren konsequent zu verweigern, anstatt sich widerwillig die Hände mit dem Blut und den Tränen Unschuldiger schmutzig zu machen. Nicht mehr abschieben, nicht mehr einsperren, nicht mehr ausbeuten und ausgrenzen, niemanden mehr unter menschenunwürdigen Zuständen versauern lassen. Sich mit möglichst vielen beherzten Menschen zusammentun um das zu beenden – und um eine Gesellschaft aufzubauen, die ohne all das klarkommt. Eine in der wir wirklich gleichberechtigt sind und das was da ist gerecht unter uns aufteilen. Essen und Wohnraum sind nämlich genug für alle da, sie sind nur falsch verteilt. Wir wollen, dass keine Grenze uns mehr voneinander trennen kann, dass kein bewaffneter Mob über uns herrscht – egal ob staatlich oder nicht – sondern niemand mehr! Wenn ihr das eines Tages dann auch wollt, seid ihr uns herzlich willkommen.

Klar, wird der Weg dahin nicht immer angenehm sein. Fragt unsere anarchistischen Genoss*innen entlang der Balkanroute, die wissen, das zu jedem Grenzzaun auch ein mutiges Herz, ein guter Bolzenschneider und die Gefahr einer Haftstrafe gehört. Fragt doch mal die Kids von Fridays for Future, die von ihren Schulleitungen drangsaliert werden. Fragt alle diejenigen, die sich mit ihren Körpern Naziaufmärschen, Atomtransporten oder Kohlebaggern in den Weg stellen, auch wenn sie dafür Polizeiknüppel und Pfefferspray riskieren.
Oder fragt all die linken Aktivist*innen die sich 2015 massenhaft in ihre Autos gesetzt haben, um die in Ungarn gestrandeten Refugees da raus zu holen – mit dem Risiko als Schlepper*innen verurteilt zu werden. Sie haben damit erst die kurzfristige, deutsche Grenzöffnung erzwungen, die auch vier Jahre später noch so ein rotes Tuch für alle Rechten ist.
Fragt Carola Rackete und ihre Crew – Sea Watch, Jugend Rettet, WatchtheMed, Ärzte ohne Grenzen und all die anderen vom Staat bedrängten Held*innen der Zivilgesellschaft.

Ihr werdet immer und immer wieder dieselbe Antwort bekommen:

Trotz alledem!
Es lohnt sich…
wir hören nicht auf…
und am Ende werden wir gewinnen.

Danke fürs zuhören.